Flüchtlingsdebatte Die Flucht (Teil II) - Über 6.000 Kilometer Strapazen"> Flüchtlingsdebatte Die Flucht (Teil II) Über 6.000 Kilometer Strapazen

In der letzten bwd-Ausgabe wurden die Lebensumstände des 14-jährigen Esmatullah Azimi in Afghanistan beschrieben und auch der Grund seiner Flucht angedeutet. Wie ist es ihm auf dem sechs Monate langen Weg nach Österreich ergangen?Wenn man auf Google-Maps den Weg von Wien nach Kandahar in Afghanistan eingibt, dann erfährt man unter dem sinnigen Hinweis auf potenzielle Staatsgrenzen und Verkehrshindernisse, dass die über 6.000 Kilometer lange Strecke auf dem Landweg mit dem Auto in fast unglaublichen 65 Stunden zurückzulegen ist. Ohne Auto, Geld zum Tanken oder gar einen Pass für den legalen Grenzübertritt wird die Sache aber deutlich komplizierter und dauert viel länger. Dank organisierter Schlepperringe ist aber auch so ein langer und komplizierter Weg für tausende Flüchtlinge als letzter Ausweg möglich. Unvorstellbare HürdenEsmatullah Azimi war von seinem Onkel mit dem Auto bis nach Kandahar gebracht worden. Dort wurde er einem Schlepper übergeben, der sich um die Weiterreise nach Europa bis nach Athen kümmern sollte – obwohl der Jugendliche keine einzige Münze besaß, genügte das Versprechen seines Onkels, die geforderten 5.000 Dollar mit Hilfe der ganzen Familie in Raten aufzutreiben. Das ist kein einfaches Unterfangen, wenn man von einem Durchschnittsverdienst von 100 Dollar im Monat ausgehen kann: Auf den österreichischen Durchschnittslohn umgerechnet würde das einen Preis von circa 80.000 Euro bedeuten. Das erste Hindernis war die Grenze nach Pakistan. Bis wenige Kilometer davor wurden die Geschleppten in Gruppen von 20 Personen stehend auf einem altersschwachen Pick-up gebracht. Von dort aus hieß es zu Fuß weiter in die Berge: Wenn man sich vorstellt, nur mit einer dünnen Sommerjacke in über 3.000 Metern Höhe über Nacht zu marschieren, immer mit der Angst, den Vordermann aufgrund von starkem Nebel aus den Augen zu verlieren und in den Abgrund zu stürzen, wirkt die Angst, von der Polizei beschossen zu werden, umso größer: „Wir hatten Glück und kamen gut durch, aber wir hatten von einer anderen Gruppe gehört, die von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Dabei starb ein Afghane“, so der erschütternde Kommentar Azimis. Nach einem ganzen Tag und einer Nacht war auch diese schwierige Hürde gemeistert. Von Pakistan ging es dann weiter quer durch den gesamten Iran bis in die Türkei. Die Reise, welche durch die bestens organisierten Schlepper wie von einem großen Reiseveranstalter durchgeführt wurde, musste oft unterbrochen werden, wenn eine Etappe zurückgelegt war und die erschöpften Menschen Ruhe brauchten. „Wir wurden von einem Schlepper zum nächsten weitergereicht. Jeder war einer bestimmten Gruppe zugeordnet, die sich aber ständig ändern konnte. Mal waren wir nur zwei, dann wieder 50 oder 100 Personen“, errinnert sich der junge Afghane. Zum Essen gab es fast nur Brot, Paradeiser und ein wenig Wasser. Katastrophale HygieneDie hygienischen Zustände waren noch erbärmlicher: Keine Waschmöglichkeit über Wochen, keine Möglichkeit zum Zähneputzen, nur selten kam man zu einem Waschbecken oder gar unter eine Dusche. Für die Notdurft stand nur Sand und ein wenig Wasser zur Verfügung, nicht einmal eine Zeitung ließ sich auftreiben. Was aber noch zermürbender für den 14-Jährigen war, war das Warten und die Ungewissheit, wo die Reise überhaupt hingehen und was ihn dort erwarten würde. Nach der langen Durchquerung des Iran und der Türkei, zusammen mit vielen jungen Männern, aber auch einigen alten Menschen, die oft getragen werden mussten, war nach langen Wochen dann eine Seepassage auf dem Programm: Vom türkischen Festland ging es mit kleinen Schlauchbooten auf eine nahe gelegene Insel, die bereits griechisches Territorium und damit die lange ersehnte Europäische Union war. Von dort ging es dann ungehindert mit einer großen, regulären Fähre bis nach Athen, wo sich die Schlepper schließlich verabschiedeten. Der verängstigte Junge war nun in einer fremden Großstadt ohne Sprachkenntnisse, Papiere und Geld völlig auf sich alleine gestellt. 48 Stunden TodesangstMit Hilfe von afghanischen Landsleuten, die er auf der Flucht kennengelernt hatte, konnte er sich dann auf einen LKW schleichen, der auf eine Fähre fuhr. Es war allerdings nicht der Laderaum, sondern eine zwei mal ein Meter lange Metallbox am Unterboden des Fahrzeuges, die nur etwa 40 Zentimeter hoch war. In diesem rollenden „Gefängnis“ musste Esmatullah über zwei Tage aushalten und hatte nur einen Liter Wasser und kein Essen mit. Damit er sein Versteck nicht verrät und verhaftet wird, konnte er seine Notdurft nur in ein zusammengefaltetes Milchpackerl machen. Nach endlosen Stunden, die ihm wie Tage vorkamen, setzte sich der LKW am Zielhafen endlich wieder in Bewegung und fuhr weiter. „Ich weiß bis heute nicht, an welchem Hafen wir gelandet sind. Da wir dann ungefähr drei Stunden nach Norden gefahren sind, wo ich in Hermagor auf eine Raststätte flüchten konnte, schätze ich, dass es Triest oder Venedig war“, sagt Azimi. Unbekanntes ÖsterreichIn Athen hatte der schmächtige Junge beschlossen, nach Paris oder nach Rom zu kommen, da er sonst keine Stadt in Europa kannte. Als er dann die Ortstafel von Hermagor in Kärnten sah, fragte er also auf Englisch nach dem nächsten Bahnhof, um nach Rom zu kommen. Er musste dann dort stundenlang über Nacht auf den ersten Zug in den Süden warten und wurde sogar von Polizisten gefragt, ob alles in Ordnung sei. Diese zeigten ihm auch den Weg zum Fahrkartenschalter. Als er sich am nächsten Morgen dann mit einem gültigen Ticket im Zug nach Rom befand, war aber bald „Endstation“: Die italienischen Carabinieri kontrollierten den unbegleiteten Minderjährigen, der keine Papiere vorweisen konnte. Da er keinen Asylantrag in Italien stellen wollte, wurde er am nächsten Morgen an der Grenzstation zwischen Italien und Österreich der österreichischen Polizei übergeben. Nach genug Strapazen stellte er dort an Ort und Stelle einen Asylantrag und wurde nach einer intensiven Befragung in ein Flüchtlingsheim nach Villach überstellt. Endlich wieder ein Bett zum Schlafen, ein warmes Essen und am wichtigsten: eine Dusche. Es war für den gestrandeten Flüchtling wie das Paradies. „Ich habe mich am ersten Tag fünfmal hintereinander geduscht, weil ich immer noch das Öl und den Dreck von meinem LKW-Versteck an mir hatte. Ich war so dankbar“, erinnert sich der heutige Bodenlegerlehrling. Es war der Tag vor Weihnachten, als seine seit August andauernde Flucht vorerst zu Ende war. Lesen Sie in der nächsten bwd-Ausgabe, wie es Esmatullah in sechs Monaten schaffte, Deutsch zu lernen, und wie sein Leben und die Integration in Österreich weiterging.